Die langsamen Menschenaffen – Ein Interview mit Dr. Maria van Noordwijk
Bild: Dr. Maria van Noordwijk erforscht Mutter-Kind-Beziehung
Dr. Maria van Noordwijk, geboren am 10. Juli 1954 in Amsterdam (NL), forscht seit 1976 in Indonesien an Makakken und Orang-Utans. Als 2003 das Forschungscamp Tuanan im BOS-Mawas-Gebiet fertig gestellt wird, gehört sie zu den ersten Orang-Utan-Forscherinnen der Station.
Als Anthropologin an der Universität Zürich gilt sie als eine Koryphäe auf dem Gebiet des Sozialverhaltens von Orang-Utans und hat weit über 40 Publikationen in Zeitschriften und Büchern verfasst. Ihr ganz besonderes Interesse gilt der aussergewöhnlichen Mutter-Kind-Beziehung bei Orang-Utans.
Dr. Maria van Noordwijk ist selber zweifache Mutter und hat BOS Schweiz gerne im Rahmen dieses Interviews an ihren Erlebnissen und Erfahrungen sowie an ihrem unerschöpflichen Wissen über den Orang-Utan teilhaben lassen.
In einem aktuellen Artikel bezeichnen Sie Orang-Utans als die «Langsamen Menschenaffen». Was meinen Sie damit?
«Orang-Utans haben einen extrem langen und langsamen Lebenszyklus. Vergleicht man die Zeitspanne zwischen zwei Geburten von Orang-Utans mit anderen Tierarten, so zeigt sich, dass der Orang-Utan mit 7-8 Jahren den längsten Geburtsintervall hat. So viel wir wissen, haben alle anderen Menschenaffen, sowie auch Wale und sogar Rhinozerosse kürzere Geburtsintervalle. Orang-Utan- Babys werden ca. 7 Jahre gestillt und sind erst mit ca. 14 Jahren geschlechtsreif. Da kommt man automatisch zur Frage: Wie viele Kinder hat eine Orang-Utan-Mutter in ihrem Leben? Und: Wie lange muss sie leben, um genügend Kinder gross zu ziehen, dass die Population nicht schrumpft?»
Was macht die Mutter-Kind-Beziehung von Orang-Utans im Vergleich zu uns Menschen besonders?
«Während unserer Forschung sind wir auf mehrere Mütter gestossen, die 5-6 Kinder aufgezogen hatten, d.h. sie wurden mindestens 50 Jahre alt.
Bei Orang-Utans ist es ganz allein die Mutter, die das Kind aufzieht. Bei Menschen ist das natürlich ganz anders. Da helfen die Väter, Grosseltern und andere nahe Bekannte mit, das Kind zu erziehen, zu beschützen und zu ernähren. Auch bei anderen Affen und Menschenaffen gibt es eine unterstützende Sozialstruktur.
Menschenmütter sind abhängig von der Kooperation mit Anderen. Orang-Utan-Mütter sind das andere Extrem, sie sind ganz auf sich gestellt und so dauert es lange, Nachkommen grosszuziehen.»
Bild: Björn Vaughn BPI | BOS Foundation
Ungefähr 10 Jahre bleibt das Orang-Utan-Kind bei seiner Mutter. Welche Herausforderungen müssen Mutter und Kind im Alltag meistern?
Die Mütter halten ausserdem ihren Nachwuchs in der Nacht warm, indem sie zusammen in einem Nest schlafen. Auch wenn es regnet, kuscheln sie sich eng aneinander.»
Wenn das Orang-Utan-Kind und die Mutter keiner Gruppe angehören, muss das Kind alles Nötige von der Mutter lernen. Wie lernt das Kind Sozialverhalten?
Bild: Björn Vaughn BPI | BOS Foundation
«Natürlich verbringt das Kind die meiste Zeit mit der Mutter, aber gelegentlich treffen sie auch auf andere Mütter mit Kindern. Diese werden dann eingehend vom Jungtier beobachtet.
Handelt es sich um Verwandte oder gute Freundinnen der Mutter, dürfen die Jungtiere miteinander spielen. Doch die Spielzeit ist beschränkt, auf ca. 5-10 Minuten pro Tag. Das gibt dann etwa eine Stunde in der Woche - sehr viel weniger, als bei anderen Tierarten. Normalerweise erlaubt die Mutter nur den Kontakt zu Verwandten und fremde Orang-Utan-Weibchen werden verjagt. Um so wichtiger ist es, nur in Gebiete auszuwildern, die keine wilde Orang-Utan-Population aufweist.»
Welche Folgen hat die Regenwaldzerstörung für Mütter?
Inwiefern hat die Waldzerstörung und der Klimawandel Ihre Forschung beeinflusst?
Wie schützt man Orang-Utans unter Berücksichtigung des langsamen Lebenszyklus und speziellen Sozialverhaltens am besten?
«Wir müssen schützen, was wir haben. Das heisst, dass wir die Populationen schützen müssen, die noch intakt sind. Populationen, bei denen die Individuen noch in natürlicher Beziehung stehen, bei denen die Mütter noch in der Region leben, wo sie geboren wurden. Dort kennen sie die Vegetation und erkennen dadurch essbare und nicht essbare Pflanzen.
Es ist viel günstiger und besser, das zu schützen, was noch da ist. Denn es ist unvergleichbar schwerer und aufwendiger, diese natürliche Situation zu imitieren. Natürlich sollten wir weiterhin Orang-Utans auswildern, aber wir sollten darüber nicht vergessen, den bestehenden Regenwald mitsamt seinen wilden Orang-Utans zu schützen.
Mutter Yayang mit Baby Louise (Bild: BOS Foundation | Sumiyati)
Dr. Van Noordwijk, haben Sie persönlich etwas von der Forschung an Orang-Utan-Müttern gelernt?
Das Interview wurde geführt von:
Bild: Rita Sastrawan-Glaus im BOS-Rettungszentrum Nyaru Menteng
Rita Sastrawan-Glaus, am 27. Juli 1979 in Tübingen (DE) geboren, hat den Grossteil ihrer Kindheit in Indonesien gelebt. Der Schutz des Orang-Utans und des Regenwaldes wurde eine Kopf-und Herzensangelegenheit. Als Kommunikationsverantwortliche von BOS International besuchte sie die BOS-Projekte, Orang-Utans und auch die Tuanan Forschungsstation.
Derzeit ist sie ehrenamtlich für BOS Schweiz tätig. Als zweifache Mutter und Biologin hat sie mit grossem Interesse und Engagement das Interview zum Muttertag mit Dr. Van Noordwijk geführt.